Blindspot hat im vergangenen November die zweite inklusive WG in Bern eröffnet. Die Bewohner*innen Alex und Jasmin gewähren #unbeschränkt einen Blick in ihr Zuhause und erklären im Interview, wie inklusives Wohnen funktioniert.
«Am meisten geniesse ich es, nach der Arbeit nach Hause zu kommen, zu entspannen und mir im Sommer vielleicht ein kaltes Bier zu gönnen», sagt Alex Kratzer – und klingt mit seiner Antwort auf die Frage, was er an seiner neuen Wohnung am besten findet, wie andere 26-jährige. Es ist seine erste Wohnung, die er über seine Anstellung im technischen Dienst bei Blindspot gefunden hat. Daneben arbeitet er in der Autowerkstatt seiner Eltern. «Ich habe mir gedacht, dass ich ja nicht bis 40 bei meinen Eltern wohnen kann», schmunzelt Alex. Was ihn im Vergleich zu Gleichaltrigen in dieser Lebensphase unterscheidet, ist seine starke Sehbeeinträchtigung. Alex kann zwar Auto fahren, benötigt aber Unterstützung, wenn er zum Beispiel via E-Banking Rechnungen zahlen oder einen Brief schreiben muss.
Diese Hilfe erhält er seit seinem Einzug in die WG nun oft von Jasmin Gasser, 24. Frisch an der Uni für BWL eingeschrieben suchte sie nach einer Abwechslung zum Einpersonenhaushalt und stiess auf das Inserat von Blindspot. Die neue Wohnung könnte moderner und urbaner kaum sein: Die Überbauung Burgernziel an der Thunstrasse wurde 2022 fertiggestellt und hat neben grosszügigen Innenhöfen auch eine möblierte Dachterrasse, einen Gemeinschaftsraum, eine Werkstatt und ein Musikzimmer. «Mir gefällt’s und das Zusammenleben mit Alex funktioniert sehr gut», findet Jasmin. «Wir haben einen guten Austausch, respektieren gegenseitig aber auch den Rückzug.»
Die urbane Umgebung ist gewollt, erklärt Jonas Staub, Gründer und Geschäftsleiter von Blindspot. «Wir haben inklusives Wohnen mit dem Ziel initiiert, Menschen mit und ohne Beeinträchtigung anzuziehen. Das ist einfacher in der Stadt, wo wir die Bewohner:innen auch gesellschaftlich ins Zentrum holen können, mit guten ÖV-Verbindungen und Zugang zum Nachtleben. Unsere WGs richten sich an Menschen zwischen 18 und 30, deshalb ist auch wichtig, dass die Wohnungen nicht zu teuer sind», erläutert Jonas Staub das Konzept. Mit den inklusiven Wohngemeinschaften versucht Blindspot eine Alternative zum separativen Wohnen anzubieten, die auf Selbstbestimmung setzt. Blindspot übernimmt die Verhandlungen mit Eigentümern oder Vermietern und vermietet Räume in den Wohnungen wiederum an die WG, zu einem Mietzins, der unter den Marktpreisen liegt. Die Bewohner*innen sind danach selbst dafür zuständig, zum Beispiel die Stromrechnung zu bezahlen, das Zusammenleben zu organisieren oder die Verwaltung anzurufen, wenn etwas nicht funktioniert. Ist das nicht eine Überforderung?
Nein, findet Jasmin: «Du bist der beste Beweis, wie selbständig Menschen mit Beeinträchtigungen leben können», sagt sie. «Merci», lacht Alex. Für Jasmin ist es selbstverständlich, dass sie sich gegenseitig unterstützen. «Wir haben uns angefreundet und da hilft man sich. Wenn ich mal finde, dass Alex etwas besser mit Blindspot bespricht, sage ich das. Das kommt aber eigentlich fast nie vor.» Für solche Fälle betreut ein Coach von Blindspot die WG, der im Moment alle zwei Wochen an der WG-Sitzung teilnimmt.
Für Jonas Staub ist entscheidend, dass sich das Coaching den Bedürfnissen der Bewohnenden anpasst. «Wir möchten niemandem Entwicklungspotenzial wegnehmen, indem wir zu stark eingreifen. Deshalb nehmen wir uns bewusst zurück, solange es der WG wohl ist. Auch sonst kommen ja nicht dauernd die Eltern vorbei und tun ihre Meinung kund», erklärt Staub den innovativen Coaching-Ansatz. Das Coaching steht auch den Mieter*innen ohne Beeinträchtigungen offen und sorgt gleichzeitig dafür, dass diese keine Betreuungsaufgaben übernehmen. «Die Coaches sind wir. Die WG-Bewohner*innen sollen einfach sich selbst sein, damit stellen wir die Freiwilligkeit sicher», so Staub. Deshalb sucht Blindspot bewusst keine Personen mit sozialpädagogischem Hintergrund. In den WGs wohnen Versicherungskaufleute, ein Schreiner, ein Herrenschneider – querbeet, wie sonst auch.
Und in Zukunft? «Wir stehen kurz davor, in einer anderen Stadt eine weitere Wohnung zu eröffnen», sagt Jonas Staub. Seine Vision: Dass in der Schweiz inklusives Wohnen zum Mainstream wird. «Selbstbestimmt, aber mit Unterstützung, dort wo sie Sinn macht und gewünscht ist.» Alex ist in seiner Selbständigkeit und in der Berufstätigkeit angekommen und geniesst sein eigenes Zuhause. «Neue Stühle wollten wir noch kaufen.» Auch für Jasmin stimmt der Mix, an der Uni ist sie im ersten Studienjahr und plant ebenfalls, längerfristig in der Wohnung zu bleiben. Was würde sie jemandem empfehlen, der sich für eine inklusive Wohngemeinschaft interessiert? «Es ist wie sonst auch das Zusammenspiel verschiedener Charaktere. Wichtig ist, keine Berührungsängste zu haben und offen zu sein für den gegenseitigen Austausch. Klingt wie ein gutes Rezept für die meisten Formen des Zusammenlebens.
Blindspot setzt sich für eine Gesellschaft ein, in der Inklusion in allen Strukturen als Selbstverständlichkeit gelebt wird. Neben der WG im Burgernziel betreibt Blindspot eine Wohnung nach gleichem Konzept in der Lorraine, hat mehrere inklusive Gastronomiebetriebe im ersten Arbeitsmarkt lanciert und setzt verschiedene weitere Inklusionsprojekte im Bereich Arbeit und Freizeit um.
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