Curdin Salis Gross ist 58, Softwareentwickler bei der Mobiliar und erfolgreich gescheitert. Eine Erschöpfungsdepression zwang ihn unvorbereitet zu einer Auszeit und brachte neue, wertvolle Erkenntnisse mit sich. Um andere an der Chance teilhaben zu lassen, die er in seiner Krise sah, erzählte er davon an einer «Fuck-up-night». Und überraschte seine Zuhörer mit ungewöhnlichen Rezepten für mehr Glück im Kleinen wie im Grossen.
Herr Salis Gross, wie kamen Sie dazu, über so ein persönliches Thema wie Burn-out vor Publikum zu sprechen?
Mein damaliger indirekter Vorgesetzter initiierte den Scheiterabend. Normalerweise ist ja die Idee solcher «Fuck-up-nights» zu erzählen, wie viele Start-ups man schon an die Wand gefahren hat (lacht). Bei mir ging’s halt nicht um ein Start-up, sondern um mich selbst.
Waren Sie nicht wahnsinnig nervös?
Ich bin lange mit einer Band für experimentelle Musik aufgetreten, deshalb bin ich mir einiges gewohnt (lacht). Wichtig ist einfach, darüber zu reden. Leider ist das Thema psychische Gesundheit immer noch stigmatisiert. Ich war allerdings mit meiner Geschichte schon zuvor sehr offen umgegangen.
Was geschah dann?
Ich erzählte vor rund hundert Zuhörern zum Beispiel davon, wie ich als Teil meiner Genesung eine Schnupperlehre bei meinem Quartiermetzger machte und dort zwei Jahre als Aushilfe mitarbeitete. Die Idee dieses «therapeutischen Metzgens» war für mich, etwas ganz Neues zu tun und meine eigenen Ressourcen wieder zu wecken. Dafür waren zuerst allerdings die Einsicht, dass ich mich in der Krise befand, sowie professionelle Hilfe unabdingbar. Diesen Ansatz nennt man heute «Recovery».
Warum war Ihre Erschöpfungsdepression für Sie ein Scheitern?
Weil ich zuvor immer die Einstellung hatte, dass mir das sicher nicht passiert. Wie das wahrscheinlich alle denken. Irgendwann, das ist nun rund neun Jahre her, merkte ich aber, dass es nicht mehr ging. Ich meldete mich beim Personaldienst und wurde krankgeschrieben. Danach fiel ich acht Wochen aus: Ich scheiterte also im klassischen Sinn in meiner Pflicht als Arbeitnehmer.
Was taten Sie dann?
Ich begann mit einer Psychiaterin und einer Physiotherapeutin eine Therapie. Für mich war in der Behandlung wichtig, nur schon Worte dafür zu finden, was mir widerfuhr. Bereits nach sechs Wochen motivierten mich die Therapeutinnen, niederprozentig wieder zur Arbeit zu gehen. Für mich war das in dem Moment eine grosse Überforderung, rückblickend war dies aber für meine Genesung entscheidend.
Weshalb?
So rasch als möglich wieder in den Arbeitsalltag zu finden tat mir gut. Am Tag meiner Rückkehr erzählte ich meinen Kollegen, was passiert war und wie es mir ging. Mir war wichtig, dass meine Krankheit kein Tabu ist und dass man mich darauf ansprechen darf. Ich bat meine Kollegen sogar, auf mich zuzukommen, wenn ihnen etwas auffiel oder sie etwas interessierte. Auch später noch sprach ich einiges von mir aus an und stellte beispielsweise den ensa-Kurs vor, den ich sehr wertvoll finde. Die Reaktionen waren durchwegs positiv.
Wie wichtig war die Unterstützung durch Ihre Arbeitgeberin
Die Mobiliar?
Sehr. Ich spürte von den direkten Vorgesetzten viel Unterstützung. Dabei geht es nicht nur um die praktischen Fragen, sondern vor allem auch um Empathie. Ich fühlte mich durch meine Chefs und Kollegen sehr gestärkt und ging letztlich auch wieder in den «alten» Job zurück, was vermutlich eher selten ist. Heute arbeite ich zu 60% und hätte oft am Mittwochabend Lust, noch weiterzuarbeiten. Arbeiten ist für mich heute auch eine Ressource, nicht mehr Belastung. Das sagt doch auch schon viel.
Ist die Toleranz gegenüber dem Scheitern etwas, dass man kulturell auch sonst bei Ihrer Arbeitgeberin spürt?
Das ist so. Wir arbeiten in der IT nach einem Vorgehensmodell, in welchem Fehler ausdrücklich vorgesehen sind. Wenn man neue Lösungen finden will, braucht es den Mut, zu scheitern.
Wie blicken Sie heute auf diese Zeit vor neun Jahren zurück?
Ich bin froh, dass mir das passiert ist. Ich war nämlich auf bestem Weg dazu, wie mein Vater zu enden, der mit etwa 55 selbst eine Erschöpfungsdepression hatte. Nur sagte man dem noch nicht so. Mit 65 war er ein alter, ausgebrannter Mann. Für mich war die Krise ein Weckruf.
Was haben Sie an Ihrem Leben geändert?
Einmal pro Woche gehe ich fix wandern. «Bewegen Sie sich», haben sie mir gesagt, und das mache ich (lacht). Ich habe eine Wanderplaner-App und gehe nach Lust und Laune los - irgendwo zwischen Châtel St.Denis und dem Bünztal suche ich mir eine Route aus.
Ich bin immer noch in Erhaltenstherapie bei derselben Psychiaterin und derselben Physiotherapeutin, wenn auch nicht mehr so häufig. Sie beide haben mir beigebracht, wie ich meinen Körper besser spüren kann. Jeden Tag nach dem Aufstehen mache ich während rund einer Stunde Atem- und Körperübungen. Grundsätzlich merke ich, dass ich jetzt viel besser auf mich höre und auch «Nein» sagen kann.
Sie blicken also positiv in die Zukunft?
Etwas Entscheidendes, das mir die Sozialarbeiterin gleich bei unserem ersten Treffen sagte: «Herr Salis Gross, von jetzt an tun Sie sich jeden Tag etwas Gutes. Was ist egal.» Damals fing ich damit an, Tagebuch zu schreiben. In die Rubrik SBGG - «Sich etwas besonders Gutes getan» - trage ich ein, was mich freut, auch wenn’s nur ein Kaffee ist, eine Platte zu hören oder dieses Interview zu führen.
Was ist für Sie gutes Scheitern?
Wenn man etwas dabei lernt – und sich verändert. Für mich war wichtig, einen neuen Umgang mit den Herausforderungen des Lebens zu finden, denn mit diesen ist man täglich konfrontiert.
Dieser Beitrag erscheint auch auf inclousiv.ch.
Fuck-up-nights ist eine globale Bewegung in gegenwärtig 90 Ländern, die dazu anregt, Geschichten des eigenen Scheiterns vor Publikum zu erzählen. Inbesondere in der Start-up-Szene ist das Format beliebt. Die Mobiliar nahm die Fuck-up-night zum Vorbild, um das Konzept im Rahmen ihres «Scheiterabends» auch auf das Thema psychische Gesundheit auszuweiten.